Fräulein Lucy

Fräulein Lucy

Herr Nepomuk hatte sehr viel zu tun: Nachts erkundete er sein neues Revier und verteidigte es gegen eventuelle Mitbewerber, tagsüber pflegte er seine sozialen Kontakte zu den Zweibeinern. Bisweilen ließen sich die Aufgaben ganz gut verbinden: Hinter den Ohren gekrault zu werden während man von einer Kühlerhaube aus die Straße überwachte, vom Schoß eines Menschen aus die Mäusepopulation abzuschätzen oder sich über den Rücken streichen zu lassen und gleichzeitig die kläffenden Vierbeiner im Blick zu haben, die überall scheußlich stinkende Markierungen in seinem Reich hinterließen, das hatte schon etwas von guter Organisation. Zu Herrn Nepomuks Glück fehlte nur eines: ein Artgenosse, mit dem man es teilen konnte.

Und da war sie, die perfekte Katze: Ein kleines rundes Köpfchen, auf dem zwei winzige Öhrchen thronten, gelbe Augen, ein putziges Stupsnäschen, kurze, zarte Beinchen, ein buschiges Schwänzchen und mächtig viel flauschiges Fell in allen Farben, die Herr Nepomuk bisher nur an verschiedenen Artgenossen gesehen hatte. Was für eine Erscheinung! Und wie gut sie roch, gar nicht nach Straßen-Rauferei oder Laubhaufen-Bett. Diese Schönheit duftete nach weichen Decken und ausgedehnter Fellpflege. Herr Nepomuk war schockverliebt und suchte die Nähe des Kätzchens – zumindest dann, wenn er gerade in ihrer Nähe zu tun hatte.

Die Katze seiner Träume wohnte an einem seiner Stützpunkte und hieß Fräulein Lucy. Leider erwiderte sie seine Vernarrtheit nicht – ganz und gar nicht. Jedes Mal, wenn Herr Nepomuk sich ihr näherte, duckte sich Fräulein Lucy, legte die Ohren an und verzog das hübsche Gesichtchen zu einer furchteinflößenden Grimasse. Sie fauchte, knurrte und maunzte, als wäre sie von einem Dämon besessen. Sogar ihr Mensch reagierte erschrocken. Herr Nepomuk ebenfalls, doch so schnell wollte er nicht aufgeben. Gut, erst musste gefrühstückt werden, aber dann stapfte er breitbeinig durchs Haus auf der Suche nach seinem Traum in Flausch. Er folgte ihrer unwiderstehlichen Duftspur durchs ganze Haus – vom Katzenklo im Keller bis in den ersten Stock, vom Badezimmer mit ihrer eigenen Wellnessliege bis zu ihrem Gefahren-Versteck hinter der Couch im Wohnzimmer. Überall dort hatte sie eindeutige Spuren hinterlassen.

Doch egal, ob er sich forsch näherte oder vorsichtig, schnell oder langsam: Fräulein Lucy reagierte immer auf dieselbe unfreundliche Weise und verzog sich dann auf Nimmerwiedersehen. Herr Nepomuk verstand: Es war wesentlich leichter, sich in der Welt der Zweibeiner einzuschmeicheln als bei Artgenossen. Kein Wunder, stellen Katzen bei sozialen Kontakten doch von Natur aus wesentlich höhere Ansprüche an ihresgleichen als an Wesen niedrigerer Abstammung – was praktisch jede andere Spezies betrifft.

Irgendwann würde Fräulein Lucy schon erkennen, wie gut sie zusammenpassten

Herrn Nepomuks Taktik war, Fräulein Lucy mürbe zu machen. Irgendwann würde sie seine unbestreitbaren Qualitäten erkennen: seine stattliche Erscheinung, sein selbstbewusstes Auftreten, seine Unerschrockenheit auch im Angesicht des Feindes. Letztere dokumentierten kleinere bis mittelgroße Wunden, die er sich nachts bei der Revierverteidigung zugezogen hatte und die nur einen Schluss zuließen: er hatte den Kampf als Sieger verlassen. Ein weiteres Plus: Auch Fräulein Lucys Mensch mochte ihn, er hatte sogar eigene schöne Futternäpfchen von ihr bekommen, die der Büffetstation von Fräulein Lucy zum Verwechseln ähnlich sahen und dasselbe erlesene Trockenfutter enthielten. Wenn es ein Zweibeiner begreifen konnte, wie gut sie zusammenpassten, musste es doch Fräulein Lucy erst recht erkennen.

Fräulein Lucy war nicht nur außergewöhnlich hübsch, sie hatte auch besondere Fähigkeiten, wie Herr Nepomuk bewundernd feststellte. So brauchte sie keinen Menschen, um zu jeder Tages- und Nachtzeit das Haus zu verlassen und wieder dorthin zurückzukehren. An einem tiefgelegenen Fenster war eine wohl eigens für die Katzendame angebrachte Klappe eingebaut, die Fräulein Lucy geschickt mit einem ihrer Pfötchen öffnete, bevor sie ihr kleines Köpfchen und ihren wohlgeformten Körper durchschob. Wenn sie auf der anderen Seite des kleinen Fensters jedoch Herrn Nepomuk erspähte, der hier oft auf sie wartete, zog sie es vor, im Haus zu bleiben. Der Weg nach drinnen war Herrn Nepomuk aber versperrt. Er hatte bislang die richtige Technik nicht verinnerlicht und musste warten, bis die Zweibeiner endlich ihre Nachtruhe beendet hatten und ihn hineinließen. Doch für ein Kätzchen wie Fräulein Lucy lohnte sich das Warten – und Herrn Nepomuks legendäre Geduld hatte sich am Ende immer ausgezahlt.

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